JÜRGEN WITTDORF

GRAFIKEN, ZEICHNUNGEN, DRUCKE, KERAMIKEN

25.07. – 23.08.2025

Es ist eine abenteuerliche Geschichte über Kunst. Kaum möchte man glauben, dass so etwas heute geschehen kann.

1988 war Jürgen Wittdorf in Ost-Berlin mein Zeichenlehrer im „Haus der Jungen Talente“. Wittdorf war bekannt für seine Holzschnitte aus den 60er Jahren. Er hatte Aufträge für Wandgestaltungen in Firmen und organisierte eine große Wanderausstellung mit Kunst von Jugendlichen. Außerdem war er in der schwulen Szene in der DDR mit seinen Aktzeichnungen bekannt. Er war nicht der einzige bekennende schwule Künstler in der DDR, aber sicher der bekannteste.

Mit dem Fall der Mauer änderte sich alles. Künstler wie Wittdorf, die der Kunst-Epoche des sozialistischen Realismus zugeordnet wurden, waren nicht mehr gefragt. Die Institutionen, in denen er als Zeichenlehrer arbeitete, wurden geschlossen, die Firmen, die einst Aufträge erteilten, wurden abgewickelt. Seit 1990 lebte Jürgen Wittdorf bis zu seinem Tod im Jahr 2018 von Sozialhilfe, so wie viele andere DDR-Künstler.

2012 übernahm ich die Studio Galerie Berlin im Bezirk–Friedrichshain. Ich schaute aus dem Fenster und war ziemlich überrascht, denn dort lief Jürgen Wittdorf vorbei. Wir hatten seit 1989 keinen Kontakt mehr gehabt. Er wohnte direkt im Haus hinter der Studio Galerie, wo sich heute das Wittdorf-Archiv und weiterhin meine Galerie befinden. Er war als Künstler in Vergessenheit geraten. Wir kamen wieder ins Gespräch und blieben bis zu seinem Tod 2018 freundschaftlich verbunden. Wir entwickelten seine Grafik-Editionen und verkauften gelegentlich etwas.

Nach langer Krankheit verstarb Jürgen Wittdorf mit Schulden. Ein paar Monate nach seinem Tod habe ich zufällig von einer Auktion erfahren, bei der Wittdorfs Werke versteigert werden sollten. Ich wollte ein besonderes Bild ersteigern, als Andenken an meinen Zeichenlehrer und Freund. Aber diese Auktion war anders. Hier wurde der gesamte Inhalt der Wohnung in vier Konvolute geteilt und versteigert. Es war eine Nachlass-Auktion. Wenn Schulden vorliegen, dann kommt es zu dieser Situation, jeden Monat in Berlin, hun- dertfach. Das ist kaum zu glauben, aber Realität.

Eine riesige Halle am Tempelhofer Feld - hier landen die Inhalte der Wohnungen. Trödel- und Antiquitätenhändler kaufen hier üblicherweise ihren Waren- bestand ein. Mittendrin das Lebenswerk von Jürgen Wittdorf, denn an den Wänden in seiner Wohnung hingen seine liebsten Zeichnungen und Grafiken, von der Scheuerleiste bis unter die Decke und in Regalen 250 gerahmte Arbeiten und 80 Keramiken. Die Auktionäre wussten nicht, dass es sich hier um den bekannten DDR-Künstler Jürgen Wittdorf handelte; sie dachten, ein alter Mann habe Bilder gesammelt.

Ich musste diese Konvolute ersteigern, und es ist mir geglückt. So ist es uns gelungen, das Werk von Jürgen Wittdorf zu retten. Für die deutsche Kunstgeschichte sind die Arbeiten von größter Bedeutung. Die ästhetische Ebene ist auch heute noch reizvoll. Die Tatsache, wie ein schwuler Künstler in der DDR lebte und die politische Ebene, wie persönliche Interessen oder Neigungen in sozialistische Auftragsarbeiten eingeworben wurden, das alles ist hoch interessant und ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen Geschichte.

Wir sind froh, mit Wittdorfs Werken diese Geschichte zu erzählen, und danken Karl Amann für diese Ausstellung ganz besonders, denn es ist die erste Ausstellung der Werke von Jürgen Wittdorf in „Westdeutschland“.

Jan Linkersdorff